Wie Rassismus aus Wörtern spricht
„Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Victor Klemperer, LTI. Notizen eines Philologen
Nicht zuletzt seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz Ende Mai im us-amerikanischen Minneapolis und den weltweiten Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt ist auch in Deutschland eine neue Debatte über Rassismus und dessen vielfältigen Erscheinungsformen entbrannt. Dies macht selbst vor einem Philosophen wie Immanuel Kant („Kant war ein Rassist“, Frankfurter Allgemeine 23.6.20), einem der Lichtgestalten und viel zitierten Begründer „europäischer Werte“ nicht halt. Und auch der Inhaber der Kieler „Mohren-Apotheke“ verspricht eine Namensänderung: „Der Begriff ‚Mohren‘ ist im aktuellen Gebrauch negativ besetzt“ (Kieler Nachrichten 2.7.20).
Und es wird auch wieder um den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz (Artikel 3) in der politischen Öffentlichkeit diskutiert. Die Kritik an der Grundgesetz-Formulierung ist indes nicht neu. Bereits vor zehn Jahren forderte die LINKE in einem Antrag den Begriff „Rasse“ durch die Formulierung, „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Der Antrag wurde damals von allen anderen Parteien im Bundestag abgelehnt.Hätte die längst überfällige Grundgesetzänderung auch keinerlei unmittelbare Folgen auf den institutionellen und strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft – aber zumindest würde damit ein Wort-Relikt aus dem Arsenal kolonialistischer und nazistischer Sprache getilgt.
Bei der gegenwärtigen Diskussion um Begriffe wie Rasse, Rassismus oder Kolonialismus geht es nicht nur um „Black Lives Matter“, es geht ebenso um den antisemitischen, antimuslimischen, antiziganistischen, den antislawischen und den völkischen Rassismus. Und es geht im weiteren Sinne um den Rassismus, der eine eigene nationale Identität in Abgrenzung zu „den Anderen“ konstruiert, einen „Rassismus ohne Rassen“ (Étienne Balibar).
Welche Spuren (Kerben) dies in der deutschen Sprache hinterlassen hat, zeigt nachdrücklich folgenden Buch:
Susan Arndt, Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Unrast-Verlag 3. Auflage 2019, 786 Seiten, 29,80.
Mit fast 800 Seiten und 70 Autor*innen bietet das Buch Hintergrundinformationen, kritische Analysen und vielfach überraschende neue Sichtweisen auf die deutsche Sprache als Abbild historischer und politischen(Macht)Verhältnisse. Dabei versammelt das Buch verschiedene literarische Genres: Es umfasst wissenschaftliche und literarische Texte wie Kurzgeschichten, Gedichte, Satiren, Essays sowie auch Interviews. Insofern sprengt es den Rahmen eines „klassischen“ Nachschlagewerkes. Wer auf die Schnelle Hintergrundinformationen zu einem Begriff sucht, wird sich mitunter schwer tun, man muss schon Zeit zum Suchen und Querlesen mitbringen.
In ihrer Einleitung („Zum Geleit“) schreiben die Herausgeberinnen: „Rassismus ist eine weiße Ideologie, ein Denksystem, das in Europa erfunden wurde, um aus einer weißen Machtposition heraus Ansprüche auf Macht, Herrschaft und Privilegien zu grundieren und ihre gewaltvolle Durchsetzung zu legitimieren. (…). Ein wichtiges Privileg, über das weiße und christlich sozialisierte Menschen verfügen, besteht in der freien Entscheidung darüber, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen oder auch nicht. Von Rassismen diskriminierte Menschen haben diese Wahl nicht, sondern werden, meist von klein auf, tagtäglich in die Situation gebracht, sich zu gesellschaftlich und zwischenmenschlich ausgeübtem Rassismus zu verhalten..“ (S. 12/13).
Der Band ist in vier Teile gegliedert. Teil 1 widmet sich den geschichtlichen Zusammenhängen von Rassismus und Kolonialismus und geht auf theoretische Grundlagen zur Analyse dieser Zusammenhänge ein. Die weiße europäische Geistes- und Kulturgeschichte stellt sich gern als fortschrittlich, zivilisiert und anderen Kulturen überlegen dar. Ihre gewalttätige und zerstörerische Seite, wie sie sich im Kolonialismus und in der 400jährigen Entrechtung und Versklavung Schwarzer Menschen zeigt, wird meistens ausgeblendet. Wissenschaftliche wie literarische Artikel vertiefen in diesem Teil des Buches neben dem Thema Kolonialismus (Die europäische Versklavung afrikanischer Menschen) die Komplexe Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus.
Teil 2 geht auf den rassistischen Gehalt von Wörtern und Begriffen ein, die im „weißen Wissen“ verankert sind. Dies macht den größten Teil des Bandes aus und bietet dem Leser – lexikalisch geordnet – vielfältige neue Perspektiven auf Wörter/Begriffe, deren koloniale Durchdringungen in Wissenschaft und Alltag häufig unbekannt sind bzw. ausgeblendet werden. Beginnend mit Afrika, Antike, Aufklärung….endet die Auflistung mit Weltkarte, Zeit und Ziegel – also nicht unbedingt Begriffe, denen wir ad hoc eine kolonialistische/rassistische Zuschreibung attestieren würden. Ganz aktuell liest sich z.B. der Beitrag „Straßennamen als Wegweiser für eine postkoloniale Erinnerung in Deutschland“ (S. 521-538) – gäbe es doch auch in Kiel noch großer Handlungsbedarf.
In Teil 3 geht es um das widerständige Selbst-Benennen Nicht-Weißer in unserer Gesellschaft und stellt einige dieser Begriffe vor (Afrodeutsche, schwarze Deutsche, People of Color). Dabei kommt dem Begriff „People of Color“ (abgekürzt PoC) besondere Bedeutung zu. Er geht auf die französische Bezeichnung „gens de couleur libres“ zurück und bezeichnete zunächst in den französischsprachigen Kolonien freie, ehemalig versklavte Schwarze Menschen, fand dann (ins Englische übersetzt) im Rahmen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre Eingang in den Sprachgebrauch, um zum Ausdruck zu bringen, dass alle Nichtweißen vom gleichen System unterdrückt werden und deshalb untereinander solidarisch sein sollten.
Teil 4 betrachtet exemplarisch die Macht rassistischer Wörter, die sowohl in der Alltagssprache wie auch in der Wissenschaft verwendet werden. In exemplarischen Analysen werden z. B. Kanake, Mohr oder Zugewanderte analysiert . Abschließend gibt es dann noch Kurzbetrachtungen zu „gängigen“ rassistischen Begriffen wie beispielsweise „Asi“, Fidschi“, Ghettoblaster“ oder „Hottentotten“.
Vervollständigt wird das Buch mit Angaben zu den Autorinnen und Autoren, einer umfangreichen 65 Seiten umfassenden Gesamtbibliografie zum Themenkomplex Rassismus/Kolonialismus sowie einem alphabetischen Stichwortverzeichnis der Einträge.
Abschließend sei eine der Herausgeberinnen des Bandes, Susan Arndt, zitiert: „Ein Ende des Rassismus ist ohne die Revolutionierung globaler Machtverhältnisse nicht zu erwarten. So bleibt die Anerkennung rassistischer Verbrechen ein längst überfälliger Schritt. Dabei geht es nicht um individuelle Schuldzuweisungen, sondern um die Verantwortung, das Wissensarchiv des Rassismus zu hinterfragen, feste Glaubensgrundsätze aufzugeben, Gelerntes zu verlernen und bereits Gelebtes selbstkritisch zu überprüfen.“ (S. 43).
Zu den Herausgeberinnen und Autor*innen
Susan Arndt, studierte Angelistik, Germanistik und Afrikawissenschaften in Berlin und London und promovierte 1997 mit einer Arbeit über Literaturen in Nigeria. Nach ihrer Juniorprofessur für afrikanische Literaturen an der Humboldt-Universität Berlin lehrt sie seit dem Sommersemester 2010 als Professorin für englische und afrikanische Literaturen an der Universität Bayreuth.
Nadja Ofuatey-Alazard ist Diplomjournalistin. Sie absolvierte die Ausbildung der Deutschen Journalistenschule München und lebte mehrere Jahre in New York, wo sie am City College einen BA in Film- und Video Produktion erwarb und als Produktionsleiterin und Koordinatorin in der US-amerikanischen Film- und Videoproduktion tätig war. Mittlerweile promoviert sie an der Universität Bayreuth.
Günther Stamer
Die zerrissene Republik „Wer nicht zu den Verlierern zählen will, sollte eben zu den Gewinnern wechseln“
Diesen zynischen Satz formulierte Martin Lück, deutscher Chefstratege von Blackrock (weltweit größter Vermögensverwalter) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9.12.19 angesichts der Debatte um die sich vergrößernde Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland.
Es ist nicht zu übersehen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Thema der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung an Bedeutung gewinnt. So gingen in den vergangenen Wochen z.B. folgende Meldungen durch die Presse:
- Die Zahl der Wohnungslosen in Kiel hat sich binnen zehn Jahren mehr als vervierfacht: von 277 Menschen im Jahr 2009 auf 1178 im Jahr 2019. (Kieler Nachrichten 29.2.20)
- Deutschland liegt mit der Höhe des Mindestlohns von 9.35 Euro im EU-Vergleich auf Platz 16 der 19 Länder, für die Daten zur Verfügung stehen. Nur Estland, Tschechien und Spanien schneiden noch schlechter ab. Die EU-Kommission sieht den Mindestlohn in Deutschland sogar auf armutsgefährdendem Niveau.
- Insgesamt haben seit Anfang 2005 etwa 20 Millionen Personen zumindest eine Zeit lang die Grundsicherungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit (Hartz-IV) bezogen. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa an einem Rückgang der materiellen Bedürftigkeit von Leistungsberechtigten, sondern primär an den durch die Hartz-Reformen drastisch verschärften Anspruchsvoraussetzungen, Kontrollmechanismen und Repressalien.
„Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an./ Und der arme sagte bleich, wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ (Bert Brecht)
Kein Problem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird gegenwärtig für dringlicher erachtet als die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungs-instituts Civey im Auftrag des SPIEGEL verdeutlicht dies erneut: Drei von vier Befragten halten die materielle Ungleichheit in Deutschland für ungerecht. Nur 17 Prozent empfinden sie hingegen als gerecht (spiegel-online 5.3.20).
Diese Feststellung ist insofern bemerkenswert, als das Jahrzehntelang „Armut“ in der Bundesrepublik ein Tabuthema war, das von den Massenmedien höchstens während der Vorweihnachtszeit aufgegriffen, dann oft mit einer karitativen Zielsetzung (Spendeneinwerbung) behandelt und anschließend für die nächsten zwölf Monate wieder „vergessen“ oder verdrängt wurde
Erst vor 26 Jahren, Ende Januar 1994, legten Paritätischer Wohlfahrtsverband und DGB ihren ersten Armutsbericht über das seit vier Jahren vereinte Deutschland vor und betraten damit Neuland indem sie das Thema „Armut“ in einem reichen Land einer breiteren Öffentlichkeit faktenbasiert darlegten 1Im Vorwort dieser Studie hieß es: „Armut ist stumm, tabuisiert und wehrlos. Der Bericht wirft Fragen auf, die für die soziale Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung sind. Vor allem aber zwingt er zur Auseinandersetzung darüber, was künftig nicht nur den Wirtschaftsstandort, sondern was vor allem den Lebensstandort Bundesrepublik ausmachen soll.“
Eine in dem Bericht erhobene Forderung an die Bundesregierung lautete, sich dieses Themas anzunehmen. Seit 2001 hat die Regierung nun in eigener Regie fünf Armutsberichte vorgelegt, der aktuelle Bericht stammt vom April 2017.2
Butterwegge: Die zerrissene Republik
Für all jene, die neben einer aktuellen Bestandsaufnahme und einer kritischen Auseinandersetzung mit den derzeitigen gesellschaftlichen Spaltungen in unserer Gesellschaft sich darüber hinaus grundsätzlicher mit dieser Thematik auseinandersetzen möchten, sei das aktuelle Buch des „Armutsforschers“ Christoph Butterwegge empfohlen: „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland.“
Christoph Butterwegge, Jahrgang 1951, lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln. Er leistete wichtige Beiträge zur Erforschung von Ursachen der Armut und sozialer Spaltung der Gesellschaft. Von 1970 bis 1975 sowie von 1987 bis 2005 war er Mitglied der SPD. Er verließ die Partei, als vor gut zwölf Jahren eine Große Koalition besiegelt wurde. 2017 kandidierte er für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten.
Auf 414 Seiten richtet Butterwegge in seinem Buch einen umfassenden Überblick über die wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in der BRD/Deutschland seit 1945.
Im folgenden der Versuch eines komprimierten Abrisses:
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, die sich der Sozialstrukturentwicklung und sozialer Ungleichheit in verschiedenen Facetten nähern, sowohl historisch als auch aktuell.
1. Definitionen, Dimensionen und Diskussionen über Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheit
Hier werden theoretische Modelle gesellschaftlicher Ungleichheit vorgestellt und auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft: So die marxistische Klassenanalyse, Max Webers Gesellschaftsmodell und vor allem die Schichtungssoziologie von Theodor Geiger, die dieser 1949 in seinem Buch „Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ entwickelt hat. Butterwegges Resumee lautet: Zwar hat Geiger „einige interessante Denkanstöße zur Analyse der Sozialstruktur moderner Gesellschaften geliefert,“ ein überzeugender Alternativentwurf zur Marx‘schen Klassentheorie sei ihm aber nicht gelungen. „Eine an Marx und Engels orientierte Klassenanalyse bleibt vielmehr auch in Zukunft aktuell. Was sie vor sämtlichen Schichtungsmodellen auszeichnet, ist der Umstand, das Gesellschaftsklassen nicht bloß bestimmte Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln, sondern auch in bestimmten Produktionsverhältnissen wurzeln“ (S. 62).
2. Untersuchungen zur (west)deutschen Sozialstruktur zwischen seriöser Empirie und purer Ideologie
Hier referiert Butterwegge soziologische Forschungs- und Theorieansätze von 1945 bis zur Gegenwart: Von Helmut Schelsky „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, über die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule, der Beck‘schen„Risikogesellschaft“ bis hin zum aktuellen Diskurs wie z.B. Heinz Budes These über das Prekariat, der „Ausgeschlossenen und Überflüssigen.“ Für Butterwegge stellt sich die Nachkriegssoziologie dar als „die Geschichte zahlloser Versuche, die verpönten Termini ‚Klasse‘ bzw. ‚Klassengesellschaft‘ durch weniger brisante Kategorien zu ersetzen und zu entsorgen.“ In der Folge führte dies dazu, dass in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit „Reichtum verschleiert und Armut verharmlost“ wurden, um die bestehenden Verteilungsverhältnisse zu rechtfertigen (S. 143).
3. Sozialstrukturentwicklung und Diskurskonjunkturen der Ungleichheit
Hier geht es um den Diskurs über soziale Ungleichheit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit von Ludwig Erhards Versprechen eines „Wohlstands für alle“ über die Wahrnehmung des Endes des „Wirtschaftswunders“ durch die Rezession 1966/67 und die sog. „Ölkrise 1973“ bis hin zu der in der Öffentlichkeit diskutierten Studie des französischen Ökonomen Piketty über das Kapital im 21. Jahrhundert und Kevin Kühnerts Sozialisierungsforderung.
4. Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit
Der Leser erfährt Fakten über die Polarisierung von Privatvermögen und Einkommen. Erörtert wird, inwieweit das Bildungssystem sozioökonomische Ungleichheit reproduziert. Schließlich werden auch noch Fakten und Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit dargestellt. Insgesamt schafft es dieses Kapitel, einen umfassenden Einblick in Daten und Fakten zu gewinnen, mit denen Ungleichheit analysiert und zugleich beschrieben werden kann.
5. Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen der Ungleichheit: Prekarisierung, Pauperisierung und Polarisierung
In diesem Kapitel erfolgt eine grundsätzliche Kritik an der von der rot-grünen Regierung auf den Weg gebrachten Agenda 2010-Politik und deren Kern, der Hartz-IV-Gesetzgebung. Butterwegge sieht darin „das Symbol für soziale Demontage, Verarmung und Verelendung.“ Damit einher geht die Deregulierung von Arbeitsmärkten. Abschließend arbeitet Butterwegge heraus, inwiefern die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise Ursache für eine weitere Verschärfung von Ungleichheit war.
6. Konturen und Perspektiven einer zerrissenen Republik
Im 80 Seiten umfassenden sechsten Kapitel bündelt der Autor den Ist-Zustand der „zerrissenen Republik“ und bietet Überlegungen für eine zukünftige Entwicklung an. Als Stichworte, zu denen der Autor pointiert argumentiert, seien genannt: digitales Proletariat, Globalisierung und Fluchtmigration, Wohnungsnot und Mietenexplosion, Standortnationalismus als ideologischer Nährboden des Rechtspopulismus.
Butterwegges Fazit: „Deutschland steht vor einer sozialen Zerreißprobe, und in fast allen Gesellschaftsbereichen wächst die Unruhe, ohne dass in der Öffentlichkeit die Gründe dafür erkannt und von den politisch Verantwortlichen die nötigen Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Es ist beinahe zum Verzweifeln. (…) Trotzdem gibt es auch gewisse Lichtblicke: Wie es scheint, ist die Bevölkerung der sozioökonomischen Ungleichheit hierzulande gegenüber zuletzt sensibler geworden und weist dem Staat heute vermehrt die Aufgabe zu, Einkommens- und Vermögensunterschiede zu begrenzen“ (S. 391).
Politisch sei deshalb eine umfassende System-, also Fundamentalkritik notwendig, die die destruktiven Folgen kapitalistischen Wirtschaftens anprangert und Alternativen benennt. Und dafür sei ein harter Klassenkampf notwendig: „Der gesellschaftliche Zusammenhang kann nur durch gezielte Umverteilung von oben nach unten gestärkt werden, was harte Auseinandersetzungen zwischen mächtigen Interessengruppen, die früher als Klassenkämpfe bezeichnet worden wären, nicht ausschließt, sondern zur Voraussetzung hat“ (S. 403).
Als Alternativen zur wachsenden Ungleichheit fordert Butterwegge mit dreierlei Maßnahmen zu beginnen:
– Entwicklung des Mindestlohns zu einem Lebenslohn
– Solidarische Bürgerversicherung und soziale Mindestsicherung für einen inklusiven Sozialstaat
– Abschöpfung des Reichtums: Vergesellschaftung und/oder Umverteilung von oben nach unten.
Mein Fazit
Das Buch bietet den Lesern keine neuen Untersuchungen, es liefert auch keine völlig neuen Fakten. Butterwegge gelingt es aber nicht nur historische Fäden zu ziehen und Diskurse, die veraltet schienen, zu rekonstruieren; ihm gelingt es vor allem, vor langer Zeit vorgetragene Überlegungen zur sozialen Ungleichheit mit aktuellen Positionen verbinden. Dadurch werden vor allem ideologische Kontinuitäten deutlich und verweisen andererseits auf die Notwendigkeit mit Althergebrachtem rigoros zu brechen.
Das Buch ist somit Beides: eine historische Rekonstruktion der Forschung und des Denkens über soziale Ungleichheit und die Herstellung eines neuen und spannenden Zusammenhangs dieser Studien und Überlegungen. Vor allem das umfangreiche sechste Kapitel bietet reichlich Stoff zum eigenen Nachdenken und vor allem auch zum Diskutieren. Und über alle Theorie, die dem Leser in diesem Buch begegnet, sollte er nicht aus den Augen verlieren, was ein junger Doktorand vor 175 Jahren in seinem Notizbuch notierte : „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.“3
Günther Stamer
Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Beltz Juventa, Weinheim 2020, 414 Seiten, 24,95 Euro
1„Armut in Deutschland.“ Veröffentlicht als 480 seitiges Buch der rororo-aktuell Reihe (Februar 1994)
2 “Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Pressemitteilungen/2017/5-arb-kurzfassung.pdf?__
3 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S. 533
Die Reparationsfrage ist nach wie vor ein brisantes und umstrittenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Während die großen Siegermächte in den ersten Nachkriegsjahren umfangreich entschädigt wurden, gingen die kleineren Länder Europas und zahlreiche Opfergruppen weitgehend leer aus. Zu ihnen gehörte auch Griechenland, das bis auf den heutigen Tag Entschädigungen für die Opfer der Massaker und die Ausplünderung seiner Volkswirtschaft einfordert. Einer umfassenden, alle ehemals besetzten Länder und alle Opfergruppen einschließenden Kriegsentschädigung hat sich die deutsche Machtelite bis heute verweigert.
Christoph U. Schminck-Gustavus
Feuerrauch
Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiádes
am 3. Oktober 1943
336 Seiten
Leinen mit Schutzumschlag
24,90 Euro
ISBN 978-3-8012-0444-0
Wie aus heiterem Himmel brannten deutsche Wehrmachtssoldaten 1943 ein griechisches Bergdorf nieder, töteten Frauen, Alte, Babys. Christoph Schminck-Gustavus reiste an den Ort, der noch heute vom Schrecken gezeichnet ist. Er hat die letzten Überlebenden des Massakers gefunden, ihre Berichte aufgezeichnet und Archive gesichtet: Die Rekonstruktion eines erschütternden Verbrechens und seiner juristischen Verleugnung.
Soldaten der Gebirgsdivision Edelweiß trieben die Einwohner von Lyngiádes in die Keller der Häuser, mähten sie mit Maschinengewehren nieder und zündeten das Dorf an. Fünf Menschen überlebten und krochen aus den brennenden Trümmern. Wegen der angeblichen Unterstützung von Partisanen fielen Hunderte Dörfer auf dem Balkan sogenannten »Sühnemaßnahmen« zum Opfer. Weil deutsche Gerichte sich später die Rechtfertigung der Täter zu eigen machten und das Massaker von Lygiádes als »Kampf gegen Partisanen« einstuften, wurde das Kriegsverbrechen nicht verfolgt. Deutschland und Griechenland haben die Opfer für ihr Leiden nie entschädigt.
Nikos Chilas war jahrzehntelang Korrespondent des griechischen öffentlich-rechtlichen RundfunksERT in Deutschland und Österreich. Von 1999 bis 2017 berichtete er für die griechische TageszeitungTo Vima. Zurzeit arbeitet er mit dem griechischen elektronischen Magazin Marginalia zusammen. Er war Mitbegründer der ZeitschriftFaktenCheck:HELLAS, die 2015 in fünf Ausgaben und in deutscher Sprache gedruckt mit einer (addierten) Auflage von mehr als 300.000 Exemplaren erschien. 2016 erschien bei Promedia von Nikos Chilas und Winfried Wolf das Buch „Griechische Tragödie. Rebellion. Kapitulation. Ausverkauf“. Ende Oktober 2018 erscheint die zweite, erweiterte und bis Mitte 2018 aktualisierte Auflage dieses Buchs.
Dieses Buch und weitere Empfehlungen oder Materialien findet ihr auf der Vernetzungsseite: https://griechenlandsoli.com/materialien/hintergrund/
Die Spur des großen Geldes – Dengler deckt die Machenschaften der »Euro-Retter« auf.
Georg Dengler droht an seinem bisher größten Fall, dem neunten in Wolfgang Schorlaus Bestseller-Krimiserie, zu scheitern: Wer hat die EU-Beamtin Anna Hartmann entführt? Was hatte sie mit der sogenannten Griechenlandrettung zu tun? Und vor allem: Wo sind die Milliarden europäischer Steuergelder wirklich gelandet?
Endlich, die mageren Jahre sind vorbei! So jedenfalls scheint es dem Stuttgarter Privatermittler Georg Dengler. Zum ersten Mal ergattert er einen wirklich gut bezahlten Auftrag: Das Berliner Auswärtige Amt will, dass er nach der Mitarbeiterin Anna Hartmann sucht. Ein Handyvideo legt nahe, dass sie entführt wurde. Mithilfe seiner technisch versierten Freundin Olga gelingt es Dengler, vier verdächtige Männer zu identifizieren. Bevor er sie befragen kann, werden sie allesamt ermordet. Gibt es einen Verräter im Auswärtigen Amt? Oder gibt Denglers neue Mitarbeiterin Petra Wolff Informationen an die Killer weiter? Denglers Ermittlungen enden in einer Sackgasse.
Die Entführte war als Beamtin an die Troika ausgeliehen worden, die Griechenland die Bedingungen der Eurogruppe diktiert hat. Liegt hier der Schlüssel für den Fall? Dengler nimmt einen neuen Anlauf und stößt auf das größte Geheimnis der sogenannten Griechenlandrettung: Auf welchen Konten sind die vielen Milliarden europäischer Steuergelder letztlich gelandet? Als Dengler die Namen der Personen und Institutionen ermittelt, die diese gewaltigen Summen kassiert haben, gerät er selbst ins Visier …